Selten in der neueren Justizgeschichte der Schweiz traf dieser Satz so gut zu.

«Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.» Das ist einer der berühmtesten ersten Sätze der deutschsprachigen Literatur.

So beginnt «Der Prozess» von Franz Kafka, eine Parabel über Allmacht und Ohnmacht, über Bürokratisierung und die damit entstehende Gefühlslosigkeit der Justizmaschine. Josef K. ist zufälligerweise auch noch Prokurist bei einer Bank. Wie in einem surrealen Alptraum versucht sich Josef K., gegen eine nicht fassbare Anschuldigung zu wehren. Natürlich geht es nicht gut für ihn aus. 

Am Schluss endet er in einem Steinbruch, wo er von zwei seelenlosen ausführenden Organen der Gesetzesmacht erschossen wird. Jedes Mal, wenn ein Strafverfahren aus den Fugen geht, wird natürlich dieser Vergleich herangezogen.

Bis zum gleichen Beruf wie Josef K. trifft der Roman auf Vincenz zu

Bei der Affäre Vincenz trifft er aber besonders genau zu, nicht nur wegen der gleichen Berufsausübung. Auch Pierin Vincenz wurde eines Morgens verhaftet. Ohne sich bewusst zu sein, etwas Böses getan zu haben.

Auch Vincenz wurde verleumdet, moderner nennt man das Strafanzeige einreichen. Auch Vincenz sieht sich seither in einem surrealen Alptraum gefangen, der mit ordentlicher Rechtsprechung oder Strafuntersuchung nur noch wenig zu tun hat.

Es geht nicht nur ihm so. Während Josef K. als Einzelgänger versucht, gegen die unsichtbaren Gerichtsmühlen zu kämpfen, wurden um Vincenz herum eine ganze Reihe weiterer Personen angeschuldigt.

Nebenbeschuldigte, wie sie nicht einmal Kafka eingefallen wären

Auch sie teilweise mit abenteuerlicher, kafkaesker Begründung. So wird zwei ehemaligen Raiffeisenmitarbeitern vorgeworfen, an einer Reise nach Dubai teilgenommen zu haben. Die fand 2014 statt. Vincenz spendierte sie als Dankeschön der Bank für jahrelange, gute Dienste. Und um nochmals seine Sonne über den beiden leuchten zu lassen, kam er gleich mit.

Nun kann man sich natürlich fragen, ob eine Luxusreise nach Dubai zum Golfen und um ein zur Sehenswürdigkeit gewordenes Hotel zu geniessen, wirklich Raiffeisen-Stil ist. Man kann sich eher nicht fragen, wieso die beiden Eingeladenen die Teilnahme hätten ablehnen sollen.

Aber als wär’s von Kafka wertet der Staatsanwalt diese Teilnahme nicht einmal als allenfalls minderes Delikt. Sondern er beschuldigt die beiden doch tatsächlich der Beihilfe zur ungetreuen Geschäftsbesorgung und gar der Urkundenfälschung.

Wie eine Unterschrift zur Urkundenfälschung wird

So wie nach seiner kafkaesken Logik jede Unterschrift von Vincenz auf einer Spesenabrechnung, die laut Staatsanwalt nicht Geschäftszwecken diente, ebenfalls eine Urkundenfälschung sei. Da nun auch diese Reise angeblich keinerlei Geschäftszwecken diente, also Bestandteil von gewerbsmässigem Betrug sei, der Missbrauch der Vincenz anvertrauten Möglichkeit, solche Spesen machen zu können, machten sich die Mitreisenden mitschuldig.

Nein, das wäre nicht einmal Kafka eingefallen. Selbstverständlich wurden die Kosten von Raiffeisen übernommen, nachdem sie der VR-Präsident – wie alle anderen Abrechnungen von Vincenz – klaglos abgezeichnet hatte.

Man muss ahnen können

Dennoch hätten die beiden Beschenkten damals ahnen sollen, dass sie hier nicht an einer Anerkennung ihres Einsatzes teilnehmen, an einer generösen Geste ihres Chefs, sondern dass sie sich zu Komplizen einer Straftat machen. Auch Josef K. macht sich schuldig, weil er gar nicht weiss, was man ihm vorwerfen könnte, es auch nicht einmal ahnt, aber dennoch sicher sein will, dass er unschuldig sei.

Genau wie Vincenz selbst, der aber weder den Grund noch die Teilnehmer in irgend einer Form verschwiegen oder verheimlicht hätte. Was auch, da wird es wieder sehr kafkaesk, bei Raiffeisen jahrelang keinem der Involvierten, dem VR-Präsident, Professor an der HSG für Governance-Fragen, der Abteilung, die sich mit den Spesenabrechnungen befasste, Compliance, wem auch immer, in irgendeiner Form verdächtig, anrüchig, fraglich, zweifelhaft, unstatthaft vorkam.

Auch den beiden Mitreisenden ging es wie Josef K.

Wenn es keine Aufbewahrungspflicht gäbe, wären diese Reisespesen längst nur noch in Form von digitalen Zahlen vorhanden. Auch die beiden Mitreisenden fielen aus allen Wolken, als sie Jahre danach mit dieser Interpretation des Staatsanwalts konfrontiert wurden.

Einer der beiden wollte das Schicksal von Josef K. vermeiden. Nicht, dass er eine Hinrichtung hätte fürchten müssen. Aber eine Fortsetzung des Spiessrutenlaufs durch die Öffentlichkeit, dem schon die Reputation, der Ruf und das Lebenswerk von Vincenz zum Opfer fiel. Also liess er sich auf einen Deal ein, um endlich damit abschliessen zu können.

Denn einen kleinen Vorteil hatte Kafkas Josef K. gegenüber Vincenz und den anderen Angeschuldigten. Von der Verhaftung, über die provisorische Freilassung bis hin zum Ende dauerte es nur wenige Tage. Der Fall Vincenz ist bereits drei Jahre alt, und es werden noch weitere vergehen, bis auch er endlich zum Abschluss kommt.

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