Wer nicht weiss, was ein Damoklesschwert ist, erfährt es in einem Schweizer Strafverfahren.
2020 verabschiedet sich, 2021 steht in der Türe. Für die meisten Schweizer gab es in diesem Jahr nur ein Thema. Corona, Corona, Corona. Todesgefahr oder alles übertrieben; grauenhafte Schadensbilanz oder kann man wegstecken.
Ist dann auch mal vorbei oder wird uns noch lange begleiten. Grosse Debatten. Thema Nummer zwei war Donald Trump. Schade, dass er abgewählt wurde. Einzig gute Nachricht dieses Jahr, dass er abgewählt wurde. Grosse Debatten.
Es gibt noch ein drittes Thema, das aber nur gelegentlich wie ein Irrlicht flackernd auf dem Bildschirm der Öffentlichkeit auftauchte. Die Affäre Vincenz. Im Gegensatz zu den anderen Themen gab es hier allerdings keine Debatte.
Über die Affäre Vincenz wird nicht debattiert
Nur eine sich selbst und immer wieder verstärkende Botschaft. Der tief gefallene Bankerstar. Der vermeintlich joviale, umgängliche, anständige Banker. Der sich als geldgierig, als Spesenritter, als Rotlicht-Banker, gar als mutmasslicher Betrüger entpuppte.
Dessen strikt vertrauliche Spesenabrechnungen mit allen schmackhaften Details an die Öffentlichkeit durchgestochen wurden. Aus einer Bank heraus! Dessen Bewegungen auf seinem Privatkonto an die Öffentlichkeit gezerrt wurden. Ein klarer Verstoss gegen das Geschäfts- und Bankkundengeheimnis.
Aber die Staatsanwaltschaft musste gezogen und geschupst werden, bis sie sich widerwillig zur Aufnahme einer Strafuntersuchung bequemte. Bezüglich all der anderen Indiskretionen, die den Fall von Anfang an begleiten, sah sie bis zur Einreichung der Klageschrift nach drei Jahren niemals einen Anlass, eine Strafanzeige zu machen.
Die Unschuldsvermutung zum schalen Witz gemacht
Immerhin korrigierte das das Bezirksgericht als eine seiner ersten Amtshandlungen. Und wies Forderungen der Medien zurück, dass doch die Anklageschrift in corpore veröffentlicht werden solle. Das sei mit der Unschuldsvermutung unvereinbar, beschied das Gericht.
In völliger Verkennung der Realität, da waren die saftigsten Stellen aus der Anklageschrift schon längst überall publiziert worden. Und die Unschuldsvermutung endgültig zum schalen Witz.
Seit drei Jahren hängt wie ein Damoklesschwert diese Strafuntersuchung über den 7 Angeschuldigten und den 11 «Einziehungsbetroffenen». Einer der Angeschuldigten hat sich bereits mittels Strafbefehl verabschiedet, obwohl er von seiner Unschuld überzeugt ist. Aber er wollte endlich unter dem Damoklesschwert hervortreten und versuchen, sein normales Leben wieder aufzunehmen.
Ein völlig aus der Welt gefallenes, drakonisches Strafmass
Das ist den übrigen Verfahrensparteien nicht möglich. Wenn sie vielleicht dachten, dass diese sich ewig hinziehende Ermittlung schon das Schlimmste sei, hatten sie sich schwer getäuscht. Für die beiden Hauptbeschuldigten fordert der Staatsanwalt je 6 Jahre Gefängnis. Für gewerbsmässigen Betrug, Urkundenfälschung und Veruntreuung. Im Fall des Hasardeurs Remo Stoffel, der sogar Bankbelege gefälscht hatte, um eine nicht vorhandene Liquidität vorzutäuschen, endete das Verfahren – mit einer Busse von 10’000 Franken.
Dieter Behring, der Grossbetrüger, der wohl einen Schaden von über 800 Millionen Franken anrichtete, bekam wegen gewerbsmässigen Betrugs 5,5 Jahre. Ein halbes Jahr weniger, als für die beiden Hauptangeklagten hier gefordert wird. Wegen Spesenbetrug in der Höhe von 250’000 Franken und unrechtmässige Bereicherung in der Höhe von knapp 24 Millionen Franken.
Behring musste keinen einzigen Tag dieser Strafe verbüssen. Indem er sie rauf und runter prozessierte, schliesslich gesundheitlich angeschlagen war und sich am Schluss der Bestrafung durch sein Ableben entzog.
Er hatte offenbar das Nervenkostüm, sich bis zum Schluss auf verschiedene Weisen über das Urteil lustig zu machen. Das ist nicht allen Opfern des Schweizer Damoklesschwert namens Strafuntersuchung gegeben.
Das jahrelang hängende Damoklesschwert
Nun ist die Anklageschrift endlich eingereicht – und ihre rechtswidrige Verbreitung sorgte für ein weiteres, kurzes Pressegewitter. Zum dritten Mal durften dann die Angeschuldigten, Einziehungsbetroffenen und ihre Familien trübe Festtage verbringen. Im sicheren Wissen, dass auch 2021 dieses Damoklesschwert nicht entfernen wird.
Selbst wenn sie in erster Instanz freigesprochen und entschädigt und wieder in die Kontrolle über ihre Vermögenswerte gesetzt würden: ein solches Urteil würde vom Staatsanwalt garantiert weitergezogen. Ans Obergericht und dann ans Bundesgericht. Was dem Damoklesschwert mindestens fünf weitere Jahre garantiert.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!