Aber man kann sich seine Gedanken über Ungleichheit machen.
Falls Pierin Vincenz sich die ihm angelasteten Delikte hat zuschulden kommen lassen, hat er selbstverständlich Strafe verdient. Über die Natur seiner Delikte und die Höhe einer angemessen Strafe, darüber kann vor Gericht gestritten werden.
Hier haben Angeklagter und Ankläger endlich einigermassen gleichlange Spiesse. Der Richter ist, ob er das zugibt oder nicht, eher geneigt, den Kollegen von der Staatsanwaltschaft mehr zu glauben, der Richter nimmt ebenfalls die öffentliche Meinung zur Kenntnis, obwohl er nie zugeben würde, davon beeinflusst zu sein.
Aber auf der anderen Seite muss ein Staatsanwalt nur sehr theoretisch sowohl belastende wie auch entlastende Indizien oder Beweise suchen. Normalerweise benützt er seine Machtfülle, um möglichst viel Belastendes zu sammeln. Dagegen hat der Angeschuldigte nur sehr wenig Möglichkeiten der Gegenwehr.
Vor Gericht ist das Kampffeld gerechter
Er kann verhört, durchsucht, sogar seiner Freiheit beraubt werden, seine Vermögenswerte können arretiert werden, sein Ruf in der Öffentlichkeit kann zerstört werden. Das alles passiert auch in einer Strafuntersuchung, wenn das Objekt eine prominente Person ist. Wie Vincenz.
Aber vor Gericht gilt tatsächlich die Unschuldsvermutung. In der altehrwürdigen Form, dass im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden ist. Er muss hier nicht seine Unschuld beweisen, sondern ihm muss über jeden vernünftigen Zweifel hinaus seine Schuld bewiesen werden. Da reichen Asnchuldigungen, Indizien, Vermutungen, Schlussfolgerungen nicht mehr aus.
Verhältnismässigkeit bei der Strafzumessung
Das ist das eine wichtige Grundprinzip in einem Rechtsstaat. Das andere ist die Verhältnismässigkeit. Also die Einordnung eines Verbrechens. Wie schwer wiegt es, welche Gesetze wurden übertreten, welche Sanktionen drohen dafür. Handelt es sich bei dem Verbrecher um einen Wiederholungstäter, wie gross ist die Gefahr, dass er auch in Zukunft delinquieren wird?
Entstand ein Schaden an Menschen, entstand ein Sachschaden, entstand ein Verlust bei anderen? Vor allem auch: geschah die Tat vorsätzlich, absichtlich, gar arglistig? Oder war sie Ausdruck eines Irrtums, der zwar nicht vor Strafe schützt, aber mildernd wirken kann.
Schliesslich sind auch noch Vorleben und Alter zu berücksichtigen. Im Rahmen der Verhältnismässigkeit. Der Fall Vincenz wurde von einem Zürcher Staatsanwalt untersucht, er wird vor einem Zürcher Gericht abgeurteilt. Aber wenn Delikte verübt wurden, so fand das im Wesentlichen in St. Gallen statt, dem Hauptsitz der Raiffeisen Schweiz.
Ein Vergleich ist schwierig, sei dennoch gewagt
Keine Gesetzesübertretung ist wie die andere, Vergleiche sind schwierig. Aber manchmal helfen sie, eine Anklage und eine Strafforderung einzuordnen. Im Fall von Vincenz soll es sich um arglistigen Betrug, Urkundenfälschung und Veruntreuung handeln. Deshalb fordert der Staatsanwalt 6 Jahre Gefängnis, die Einziehung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte und beziffert den Schaden auf 250’000 Franken. Dieser entstand dadurch, dass Vincenz über Jahre hinweg Spesen geltend gemacht haben soll, die nicht mit Geschäftszwecken zu erklären seien.
Ist das viel, ist das wenig? Vergleichen wir den Fall mit dem eines St. Galler Vermögensverwalters und Geschäftsmanns, der mit einem Schneeballsystem einen Schaden von insgesamt 45 Millionen Franken angerichtet hat. Über Jahre hinweg, und obwohl er von Anfang an wusste, dass die Ausschüttung von neu eingenommenen Geldern zur Bedienung von versprochenen Gewinnen niemals anders als im Desaster enden kann.
Vor Kurzem scheiterte er vor dem Bundesgericht mit seiner Einsprache gegen die Höhe des Strafmasses. Er argumentierte unter anderem mit seinem Alter, mit der Tatsache, dass er nach einer unbedingten Gefängnisstrafe deswegen und wegen des Alters keine Chance mehr habe, eine neue Stelle zu finden. Zudem sei er Familienvater, seine Kinder würden eine Zeitlang ohne Vater aufwachsen, und schliesslich sei er reuig gewesen und habe sich sogar selbst angezeigt.
Das Bundesgericht hielt an der verhängten Strafe fest
Das Bundesgericht schmetterte alle seine Argumente ab und hielt an der verhängten Strafe fest: 4,5 Jahre. Damit hat der Betrüger nach Jahren alle Rechtsmittel ausgeschöpft. Da er inzwischen aber im Ausland lebt, ist die nächste Frage, ob er seine Strafe überhaupt antreten wird.
Also, ein klassisches Schneeballsystem, geschädigte Kleinanleger, Deliktsumme 45 Millionen Franken, macht 4,5 Jahre. Möglicher Spesenbetrug, Deliktsumme 250’000, geschädigte Raiffeisen-Zentrale, die aber im Controlling völlig versagte und jahrelang die im Feuer stehenden Spesen durchwinkte und abzeichnete: 6 Jahre?
Ist das gerecht, ist das verhältnismässig, ist das Augenmass?
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