In erster Linie eine Gesellschaftsform, die so weit wie möglich frei von Willkür ist.

Es gibt keinen perfekten Staat. Es gibt keine perfekten Gesetze. Es gibt keine absolute Gerechtigkeit. Es ist unmöglich, jedes Unrecht, jeden Fehler, jede Ungerechtigkeit zu vermeiden.

Aber ein funktionierender Rechtsstaat unterscheidet sich von allen anderen Staatsformen dadurch, dass es das erklärte Ziel ist. Im Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit sich zu bemühen, gleiches Recht für alle gelten zu lassen.

Ein Rechtsstaat sollte nicht daran gemessen werden, ob er im Normalbetrieb funktioniert. Also bei der Durchsetzung von Verkehrsregeln, dem Schutz von Leib und Leben, dem Kampf gegen Diebstahl, Betrug, unrechtmässige Bereicherung. Auch bei seinem Bemühen, dass sich alle an vorher festgesetzte Spielregeln halten.

Also mit einem Wort: Der Rechtsstaat ersetzt das Faustrecht. Moderner: Er setzt Reich und Arm, Schlau und Doof, gut vernetzt oder einsam, mit Einfluss oder ohne, so weit wie möglich den gleichen Regeln aus. Wendet die gleichen Gesetze für alle an.

Der Normalfall ist nicht der Belastungstest für den Rechtsstaat

Der Test des Rechtsstaats findet immer an seinen Rändern statt. Also bei Fällen, die aus verschiedenen Gründen nicht zum Normalen gehören. Das kann wegen der Monstrosität des Verbrechens sein. Das kann auch wegen der Dimension des Schadens sein. Oder das kann sein, weil ein darin Verwickelter besonders prominent ist.

Das Leben von Prominenten ist auch in der Schweiz der besonderen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ausgesetzt. Als Schweizer Spezialität: Wenn sie das so wollen. Der Superstar Tina Turner wohnt seit vielen Jahren zurückgezogen am Zürichsee.  Sie will nicht ständig in den Gazetten erscheinen, also wird das respektiert.

Pierin Vincenz sah es als Teil seiner Aufgabe an, sehr öffentlich zu sein. Als Aushängeschild für seine Bank, als der gemütliche Bergler mit dem netten Bündner Akzent. Als einer wie seine Genossenschaftler, gesellig, unterhaltend, ohne Berühungsängste. Und auch Spass und Tollerei und Speis und Trank nicht abgeneigt.

Dazu charismatisch, nicht unbegabt als Bankführer; während er Raiffeisen zur Nummer drei machte auf dem Finanzplatz, ersoffen Nummer eins und zwei fast in hausgemachten Problemen, in Bussen, in Verlusten. Die eine musste in einer Notfallaktion von Regierung und Notenbank gerettet werden, die andere flüchtete sich mit exorbitant verzinsten Papieren, sogenannte CoCos, in die Hände arabischer Investoren.

Vincenz war erfolgsgewöhnt und nicht ohne Neider

Aber Raiffeisen war gesund, blieb gesund, wurde entstaubt, modernisiert, vor dem Schalter und dahinter. Vincenz, erfolgsverwöhnt, packte oftmals recht hemdsärmlig zu. Als die Bank Wegelin sich selbst entleiben musste, die Teilhaber Verantwortung übernahmen und nur die im Feuer der USA stehenden Kunden behielten, griff Vincenz zu, als ihm der grosse Rest angeboten wurde.

Denn er wollte nicht nur organisch wachsen, nur Spareinlagen und Hypotheken als Kerngeschäft halten, sondern es gelüstete ihn nach mehr. Vermögensverwaltung, Zahlungsabwicklung, IT, das ganze Paket. Damit schaffte er sich innerhalb und ausserhalb der Bank nicht nur Freunde.

Aber solange er erfolgreich am Gerät war, traute sich keiner, ihm in die Wade zu beissen. Aber als er zurücktrat und nach einem Leben nach dem Raiffeisen-Leben suchte, da war die Stunde gekommen. Strafanzeige wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung; bei Firmenübernahmen, die teilweise schon nahe an der Verjährungsgrenze lagen.

Statt interne Regelung sofort Strafanzeige

Nun ist das kein Kavaliersdelikt, wird aber normalerweise zunächst intern bereinigt. Erst wenn man sich nicht einigen kann, ruft man nach dem Staatsbüttel. In diesem Fall wurde Vincenz am gleichen Tag über die Vorwürfe informiert, als bereits die Strafanzeige unterwegs war.

In einem funktionierenden Rechtsstaat müsste für jeden Angeschuldigten, vor allem, wenn nicht einmal Anklage erhoben ist, die absolute Unschuldsvermutung gelten. Das wird im Normalfall damit sichergestellt, dass die Strafuntersuchung nicht öffentlich geführt wird. Selbst von einer Verhaftung erfährt meist nur das nähere Umfeld.

Ausser, es handelt sich um einen Prominenten. Ausser, die Anzeigeerstatter und die Strafverfolgungsbehörde sind sich einig, dass Publizität durchaus nützlich wäre. Dann wird dafür gesorgt, dass die Verhaftung des Prominenten ungefähr so schnell den Weg in die Schlagzeilen findet, wie er vom Appenzell nach Zürich überführt wurde.

Ausser, in regelmässigen Abständen werden Untersuchungszwischenergebnisse durchgestochen; sogar beim strikt vertraulichen Termin für eine Einvernahme lauert dem Angeschuldigten und seinem Anwalt ein Reporter mit eingeschalteter Kamera auf.

Es ist etwas faul im Rechtsstaat

Wenn die Strafverfolgungsbehörden sich als Knüppel in einer zivilrechtlichen Auseinandersetzung missbrauchen lassen, denn eigentlich geht es bei der Affäre Vincenz nicht um seine Spesen, sondern um mehr als 100 Millionen Franken, um die gestritten wird, wenn nicht nur die Unschuldsvermutung zu Klump gehauen wird, sondern Mann, Werk und Ruf vollständig vernichtet sind, dann stimmt etwas nicht mehr im Rechtsstaat.

Es stimmt schon deswegen etwas nicht, weil noch nie Spesen über viele Jahre hinweg dermassen mit der Lupe und in aller Öffentlichkeit angeschaut wurden. Es gibt ein Problem, weil der Betrag und die Art, wie er ausgegeben wurde, beim Banking früher business as usual war. Völlig normal. Aber genauso, wie am Anfang alle aufschrien, als ein Bankier die Tatsache aussprach, dass ein grösserer Teil der in der Schweiz aufbewahrten Vermögen steuerfrei lagerten, tun nun alle so, als sei Vincenz ein wirklich übler Vertreter seiner Zunft.

Er wird willkürlich behandelt, es wird geheuchelt, das wahre Schlachtfeld wird im Dunkeln belassen. Das macht allfällige Vergehen von Vincenz nicht besser. Aber das alles fördert Zweifel an einem funktionierenden Rechtsstaat. Das ist schlimm für Vincenz. Das ist viel schlimmer für den Rechtsstaat.

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