Güterabwägung nennt man ein Vorgehen, mit dem die Schweiz sehr gut fährt.
Da selbst die Justiz zugibt, dass es keine absolute Gerechtigkeit gibt, dass auch sie sich irren, Fehlurteile fällen kann, ist sie besonders gefordert, auch Mass und Mitte zu halten. Denn wer solche Machtmittel hat, wer so grundlegend in das Leben von Menschen eingreifen kann, ihnen Strafen auferlegen, die Freiheit nehmen, sie damit auch stigmatisieren, der sollte Vorsicht walten lassen.
Selbstverständlich ist dabei auch das Vorleben, der Werdegang eines Angeschuldigten zu berücksichtigen. Selbstverständlich macht ein tadelloser Lebenslauf mit nützlichen Erfolgen für die ganze Gesellschaft eine mögliche Straftat nicht zum Kavaliersdelikt. Selbstverständlich darf der überführte Übeltäter nicht straflos ausgehen.
Dass die Wahl des Anwalts, der Anwälte, von der Vermögenslage des Angeschuldigten abhängt, ist schon ungerecht genug. Ebenso wie die Bestellung von Parteigutachten. Werden sie von einem renommierten Strafrechtler verfasst, sind sie nicht billig.
Aufwand der Untersuchung, Auswirkungen auf den Angeschuldigten
Aber trotz alledem ist Verhältnismässigkeit ein wichtiger Faktor in der Strafverfolgung. Sowohl, was deren Aufwand betrifft, wie auch, was deren Auswirkungen auf den Angeschuldigten betrifft. Denn kein Strafverfolger kann heute so naiv tun, dass die Ausübung seiner Macht an der Unschuldsvermutung nichts ändere, dass er ja nur seiner Beamtenpflicht nachgehe.
Regelmässig ist die Vorverurteilung schlimmer als das nach Jahren erfolgende, rechtsgültige Urteil. Wie sich wohl kaum so wie im Fall Vincenz zeigt. Auch wenn man es inzwischen weder hören noch glauben mag: Der Mann ist heute so unschuldig, wie er es im November 2017 war.
Er ist so was von schuldig
Aber das Einzige, was inzwischen sozusagen amtlich ist: Er ist sowas von schuldig. Spesenritter, geldgierig, Hang zum Rotlicht, selbstherrlich, arrogant, abgehoben, ein Betrüger. Der sich 6 Jahre Gefängnis unredlich verdient hat.
Abgesehen davon, dass seit dem Paukenschlag mit seiner Untersuchungs-Haft seine gesellschaftliche Reputation, sein Ruf unwiderbringlich ruiniert sind. Selbst wenn er am Schluss freigesprochen würde.
Ganz zu schweigen von den Kollateralschäden. Vermögensarretierung, jahrelanges Kämpfen gegen einen übereifrigen Staatsanwalt. Teure Rechtsberatung. Soziale Isolierung, weil natürlich die meisten guten Freunde das Weite suchen in solchen Fällen.
Woraus bestand das Vorleben von Vincenz?
Und das Vorleben, bestand das nur aus Speseneskapaden, Champagner und leichten Mädchen? Sowie dem unersättlichen Verlangen, auch in den eigenen Sack zu wirtschaften, obwohl man von Raiffeisen angestellt war?
Natürlich nicht. Das Vorleben bestand auch darin, dass Vincenz nicht nur Raiffeisen durch alle Steuerstürme, durch die Finanzkrise schadenfrei gelenkt hat. Es bestand auch darin, dass er den leicht angestaubten Verband von über 300 Genossenschaftsbänkli zur Nummer drei in der Schweiz gemacht hat. Nicht nur vom Bilanzvolumen her. Sondern modernisiert, mit einer schlagkräftigen Zentrale.
Dazu mit einem grossen strategischen und persönlichen Geschick. Denn die Herrscher über die einzelnen Genossenschaftsbanken liessen sich anfänglich nur sehr, sehr ungern reinreden, vor allem nicht von einer Dienstleistungsstelle in St. Gallen. Aber Erfolg überzeugt halt.
Und schliesslich hat Vincenz für seine Bank nicht nur alle Krisen souverän gemeistert, sondern über die Jahre hinweg Hunderte von Millionen Franken Gewinn erwirtschaftet. Natürlich, nicht alleine, aber ohne ihn, was wäre aus Raiffeisen geworden?
Reale Gewinne, unbewiesene Anschuldigungen
Diese Erfolge können natürlich nicht mit Spesenbetrug oder widerrechtlicher Aneignung von Geld, das eigentlich dem Arbeitgeber zustünde, aufgerechnet werden. Aber bislang gibt es einen gravierenden Unterschied hier: Die Erfolge und Gewinne sind real. Die Anschuldigungen sind noch nicht mal eine Anklage, geschweige denn gerichtlich als richtig beurteilt.
Doch prominent zu sein, das hat nicht nur Vorteile. Wenn man einem vielfach gescheiterten Staatsanwalt in der Spätphase seiner Amtszeit vor die Flinte läuft, dann spielt das alles überhaupt keine Rolle. Einfach null. Vincenz besteht nur noch aus Spesenbetrug, Geldgier und mangelndem Anstand. Güterabwägung, Verhältnismässigkeit?
Wozu auch? Wertschöpfung, Erfolg, Gewinn, das interessiert doch einen Staatsbeamten nicht. Dessen Geld fliesst aus der Tasche des Steuerzahlers, seinen Posten hat er auf sicher. Misserfolge, ausser Spesen nichts gewesen? Für vor dem Gericht abgeschmetterte Anklageschriften einen Riesenhaufen Geld verröstet? Na und, das ist doch nicht strafbar.
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