Wie es sich für den modernen Erregungsjournalismus gehört, ist der Fall Vincenz wieder aus den Schlagzeilen gerutscht.
Eigentlich kein Schweizer Organ konnte sich enthalten, die Nase über die durchgesickerten Spesenabrechnungen von Pierin Vincenz zu rümpfen.
Entweder vornehm, oder indem er gleich als «Rotlicht-Banker» in die Pfanne gehauen wurde. Falls es tatsächlich so gewesen sein sollte, dass er freizügig in Striplokalen und anderen Etablissements Geld von Raiffeisen verteilte – und kann er dafür keine Geschäftszecke anführen –, dann ist das natürlich Spesenbetrug.
Moralische und ethische Aspekte haben da wenig zu suchen; ob man das als anständiger Mensch tut oder nicht, spielt keine Rolle. Ob es strafbar ist oder nicht, das schon. War es strafbar? Das steht alles noch in den Sternen. Beziehungsweise es obliegt dem Bezirksgericht, zu urteilen, ob diese Anklagepunkte zu Recht erhoben werden oder ob es einen Freispruch gibt.
Soviel nochmal zur Unschuldsvermutung. In der Mediendatenbank findet man aus der ganzen Schweiz seit Anfang dieses Monats über 600 Treffer, wenn man nach Vincenz sucht. Anklageerhebung, Spesenmissbrauch, Rotlicht, abgehobenes Verhalten. Alles wird mehr oder minder ausführlich dargestellt. Auch der zweite Teil der Anklage, der sich auf angebliche ungerechtfertigte Bereicherung bezieht.
Über 10’000 Artikel, keiner mit der richtigen Frage
Der saftige und der weniger saftige Teil der Anklageschrift sind ausgemolken. Wie sie überhaupt in die Hände der Medien gerieten, soll mit einer Strafanzeige gegen Unbekannt untersucht werden. Das hielt der Staatsanwalt in all den drei Jahren seiner Amtstätigkeit, die auch gespickt waren mit durchgestochenen Informationen, nicht für nötig. Das Bezirksgericht hingegen sofort.
Aber auch das ist nur Bestandteil eines Rauchvorhangs, wo ist eigentlich das Feuer? Dort, wo niemand hinguckt. Seit der aufsehenerregenden Verhaftung von Vincenz Ende Februar 2018 sind weit über 10’000 Artikel zum Thema erschienen. Und in keinem einzigen wird erwähnt, wo das Feuer in diesem Fall lodert.
Nämlich keinesfalls bei den Rotlicht-Spesen oder den vermuteten Bereicherungen. Sondern ganz woanders.
Es braucht nur etwas Hintergrund
Dazu muss man nur etwas Hintergrund kennen. Dann wird alles augenfällig. Nachdem Vincenz schon vorher bei Raiffeisen ausgeschieden war, wurde anschliessend auch noch sein Nachfolger entsorgt. Obwohl Patrik Gisel den besten Geschäftsabschluss aller Zeiten vorlegte, interessierte das damals niemanden wirklich.
Diverse Verwaltungsräte waren auch mehr oder minder freiwillig zurückgetreten, Zeit für einen Neuanfang. Aus dem üblichen Hauen und Stechen hinter den Kulissen gingen 2018 Guy Lachappelle als neuer VR-Präsident und Heinz Huber als neuer CEO siegreich hervor.
Beide wussten: Sie haben eine Schonfrist, in der sie von Aufräumen, Durchleuchten, Altlasten beseitigen sprechen können. Aber irgendwann müssten sie selber Leistung zeigen.
Das übliche Vorgehen
Bei den Vorgaben durch Vincenz und Gisel keine leichte Sache. Was macht man in solchen Fällen? Man schreibt Firmenankäufe und sonstige Transaktionen der Vorgänger gewaltig ab. Damit schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe. Man kann sagen, dass in Wirklichkeit die Vorgänger ganz schlecht gewirtschaftet hätten. Und man steht selbst nach diesem Abschreiber als strahlender Sieger da, selbst wenn man nur bescheiden performt.
Aber damit nicht genug. Unter Verwendung aller juristischer Kniffe, zum Beispiel die Nichtigkeitserklärung von Verträgen wegen Grundlagenirrtum, will Raiffeisen immerhin über 100 Millionen aus dem Feuer ziehen.
So viel stünde eigentlich Vincenz und seinem Kompagnon zu, einen weiteren Teil, der schon ausbezahlt wurde, will Raiffeisen wieder zurückhaben. Hier geht es um über 100 Millionen Franken. Beim Spesenbetrug geht es um 250’000 Franken, über 16 Jahre verteilt.
Keiner stellt die 100-Millionen-Frage
Der Unterschied macht einen allfälligen Spesenbetrug nicht besser oder kleiner oder straffrei. Aber zumindest die Frage drängt sich auf: Wird hier das Strafrecht, ein erfolgshungriger Staatsanwalt dafür missbraucht, in einem zivilrechtlichen Streit Punkte zu sammeln? Nach der Devise: wer solche Ferkeleien begeht und erst noch auf Spesen nimmt, der kann doch nicht seriös sein und diese 100 Millionen berechtigt beanspruchen.
Das ist die 100-Millionen-Frage. Keiner stellt sie, keiner beantwortet sie.
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