Alles an der Affäre Vincenz ist nicht privat.
Wenn die Justiz in das Leben eines Unschuldigen eingreift, ist das eine sehr private Sache. Denn da bis zu einer allfälligen rechtskräftigen Verurteilung viel Zeit vergeht, soll vorher der Schaden möglichst geringgehalten werden.
Denn es kann auch sein, dass sich die Unschuldsvermutung zur Gewissheit verdichtet und der Angeschuldigte, dann der Angeklagte freigesprochen wird. Im Zweifel für den Angeklagten, mangels Beweisen, wegen erwiesener Unschuld.
Da gibt es auch keinen Freispruch erster oder zweiter Klasse. Freispruch bedeutet: Dieser Mensch war unschuldig, ist unschuldig. Es gab zwar einen Verdacht gegen ihn, es gab eine Strafuntersuchung, es gab eine Anklage. Aber das endete in einem Freispruch. Und in einer Wiedergutmachungszahlung, die meistens nicht einmal die finanziellen Schäden abdeckt.
Bei Vincenz sickert alles an die Öffentlichkeit
So sollte es in einem funktionierenden Rechtsstaat sein. So ist es in der Affäre Vincenz seit beinahe drei Jahren nicht. In Windeseile erfuhr die Presse davon, dass es sich bei dem Ende Februar verhafteten Banker um Pierin Vincenz handelte. Auch sein Kompagnon wurde verhaftet und sofort identifiziert.
Genauso schnell wurde bekannt, dass beide in Untersuchungs-Haft genommen wurden. Es seien möglicherweise schwere Delikte begangen worden. Da bestehe Verdunklungsgefahr, also die Möglichkeit, dass die Angeschuldigten sich sonst miteinander absprechen würden oder Beweismittel verschwinden liessen.
Von geschäftlichen Transaktionen, die teilweise schon viele Jahre zurücklagen? Egal, wer in U-Haft kommt, muss ja etwas zu verbergen haben; das ist klar für die Öffentlichkeit. Aber es blieb noch ein Problem.
Wie kann man eine Rufmord exekutieren?
Unabhängig von der Ausgestaltung seines Privatlebens war Pierin Vincenz für viele ein Held. Zumindest die Ausnahme. Während seine Kollegen für Multimillionengehälter die beiden Grossbanken ins Elend führten, modernisierte Vincenz die vorher etwas angestaubte Raiffeisen-Gruppe. Für ein Gehalt, für das seine Kollegen schon nach einem oder zwei Monaten den Dienst eingestellt hätten.
Unter seiner Führung wurde Raiffeisen zur Nummer drei des Finanzplatzes. Mehr noch, sie segelte völlig unbeschädigt durch alle Streitereien um Steuerhinterzieher, musste keine einzige Busse bezahlen. Und Vincenz erkannte als Erster die Zeichen der Zeit und stellte in Frage, ob das Bankgeheimnis noch zu halten sei. Man müsse sich wohl auf das Ende dieses Schutzwalls vorbereiten.
Mit all dem machte er sich viele Anhänger und Freunde bei Raiffeisen, aber natürlich mindestens so viele Neider, denen er in er Sonne stand. Immer wieder sickerten Storys durch, dass er im Fall überhaupt nicht nur der sympathische Bündner Bergler sei, der dynamisch zu Fuss Genossenschaftsversammlungen besucht und sich charmant unter die Genossenschafter mischt.
Riesenvilla, Helikopterflüge, Dienstwagen; all das, was bei erfolglosen Bankmanagern kein Thema war, bei ihm wurde es zu einem. Dann sickerten auch erste Gerüchte über seine Vorliebe für Striplokale durch. Und dann enthüllte der Finanzblog «Inside Paradeplatz» unter Verletzung des Bankgeheimnis gestohlene und ihm zugespielte Kontounterlagen von Vincenz.
Verhaftung unter dem Verdacht ungetreue Geschäftsbesorgung
Dann der Donnerschlag Ende Februar 2018. Ungetreue Geschäftsbesorgung lautete der Anfangsverdacht. Also Vincenz habe unter Mithilfe seines Kompagnons zum Schaden von Raiffeisen in den eigenen Sack gewirtschaftet. Eine Anschuldigung, die für jeden Finanzmenschen einem Rufmord gleichkommt.
Dann passierte zweieinhalb Jahre lang nichts. Und sehr viel. In regelmässigen Abständen wurden die Medien mit Untersuchungsunterlagen gefüttert. Mit Spesenabrechnungen, mit Behauptungen, dass die Anklage nun aber unmittelbar bevorstehe.
Mit Beschreibungen von angeblichem Fehlverhalten bei Transaktionen oder Ankäufen. Mit Einblicken in sein Spesenverhalten. Wäre der Ruf nicht schon vorher ermordet gewesen, nun wäre er endgültig tot.
Selbst die streng geheime Anklageschrift sickerte sofort durch
Aber das ist noch nicht alles. Statt die Strafuntersuchung strikt vertraulich zu führen, bekam die Öffentlichkeit immer wieder Einblick. Streng verboten, aber was soll’s.
Und als Gipfelpunkt, unerreicht und unerhört in der jüngeren Rechtsgeschichte der Schweiz, gelangte die 364-seitige Anklageschrift schneller in die Hände der Medien als in die Briefkästen der Angeschuldigten.
Aber es gilt die Unschuldsvermutung.
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